Bundessozialgericht, 02.02.2012, Az.: B 8 SO 9/10 R
Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist eine Leistung der Sozialhilfe, deren Recht im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) normiert ist.
Danach haben Menschen mit Behinderungen unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn sie nicht nur vorübergehend geistig, seelisch oder körperlich wesentlich behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind.
Entsprechend den Grundsätzen des Sozialhilferechts wurde die Eingliederungshilfe als nachrangige Leistung ausgestaltet. Das heisst, vor Inanspruchnahme der Leistungen der Eingliederungshilfe müssen sämtliche Leistungen aller anderen Leistungsträger, wie z. B. die der Krankenkassen oder anderen Versicherungsträger, ausgeschöpft werden.
Folgende Maßnahmen können von den Leistungen der Eingliederungshilfe umfasst sein:
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- Integrative Hilfen für noch nicht schulpflichtige Kinder
- Schulbegleitende Unterstützungsmaßnahmen für schulpflichtige Kinder
- Unterstützungsmaßnahmen zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit
- Unterstützungsmaßnahmen zur Erlangung eines geeigneten Arbeitsplatzes (z. B. Werkstätten für behinderte Menschen)
- Ärztliche Maßnahmen zur Verhütung, Beseitigung oder Milderung der Behinderung
- Hilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (z. B. Ambulant Betreutes Wohnen, Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen)
- Sogenannte Mobilitätshilfe
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In dem oben genannten Fall des Bundessozialgerichts stritten die Parteien darüber, ob der Landschaftsverband Rheinland als Beklagter dazu verpflichtet war, eine Mobilitätshilfe in Höhe von 7934,76 Euro für die Anschaffung und den Einbau eines schwenkbaren Autositzes zu tragen.
Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens
Die Klägerin war blind, schwerhörig und teilweise gelähmt
Die 1984 geborene Klägerin war blind, schwerhörig und teilweise gelähmt (Grad der Behinderung von 100; Merkzeichen „G“, „aG“, „H“, „RF“ und „Bl“); sie erhielt von der Pflegekasse Leistungen der häuslichen Pflege nach der Pflegestufe III.
Die Klägerin wohnte in der zum Kreis H gehörenden Stadt Hü und war in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätig. Die Kosten des Fahrdienstes für den Weg zwischen Wohnung und WfbM trug der Beklagte; für private Fahrten war auf Kosten des Kreises H ein Behindertenfahrdienst eingerichtet, den die Klägerin in Anspruch nahm (bis zu vier Fahrten je Monat mit einer Wegstrecke von jeweils bis zu 35 km).
Klägerin begehrte Übernahme der Kosten für den Einbau eines schwenkbaren Autositzes
Anfang März 2004 wandte sich die Klägerin wegen des behindertengerechten Umbaus eines bereits von ihr bestellten und Ende April 2004 zu einem Preis von 29 815,19 Euro gelieferten Neuwagens an die für sie zuständige gesetzliche Krankenkasse (KK), beantragte aber auch mit einem bei der Stadt Hü abgegebenen, am 22.3.2004 beim Kreis H und nach Weiterleitung beim Beklagten am 26.3.2004 eingegangenem Schreiben die Übernahme der Kosten für den Einbau eines schwenkbaren Autositzes.
Zu dieser Zeit bezog die Klägerin neben den Leistungen der sozialen Pflegeversicherung Blindengeld nach dem (nordrhein-westfälischen) Gesetz über Hilfen für Blinde und Gehörlose in Höhe von 441,50 Euro und von der Bundesagentur für Arbeit (bis zum 22.9.2004) ein Ausbildungsgeld in Höhe von 67 Euro monatlich.
Ende 2004 wurden ihr rückwirkend ab 1.4.2004 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Hilfe zur Pflege nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gewährt. Ende April 2004 besaß die Klägerin auf einem Girokonto ein Guthaben von 24 362,17 Euro, auf einem Sparkonto ein solches in Höhe von 86,48 Euro, Wertpapiere mit einem Wert von 3529,56 Euro sowie 10 000 Euro, die sie als Darlehen von ihren Eltern erhalten hatte.
Die Klägerin war außerdem Eigentümerin eines (älteren) Pkw, den sie Anfang Mai 2004 zu einem Preis von 8500 Euro verkaufte; zur gleichen Zeit beauftragte sie eine Firma mit dem Umbau des neuen Pkw zu einem Preis von 10 051,08 Euro.
Sowohl Krankenkasse als auch LVR lehnten Übernahme der Umbaukosten ab
Nachdem die Krankenkasse die Übernahme der Kosten des behindertengerechten Umbaus des Pkw bereits abgelehnt hatte, lehnte der beklagte Landschaftsverband Rheinland die Leistung ebenfalls ab, weil die Klägerin nach dessen Ansicht über ausreichendes Vermögen verfüge und den Bedarf selbst bereits gedeckt habe.
Eine gegen diese Entscheidung beim Sozialgericht Aachen eingereichte Klage wurde mit Urteil vom 08.08.2007 abgelehnt, die dagegen wiederum eingereichte Berufung beim Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen wurde mit Urteil vom 22.02.2010 abgelehnt.
Gegen diese Entscheidungen legte die Klägerin Revision beim Bundessozialgericht ein und beantragte, die Urteile des LSG und des SG sowie den ablehnenden Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr 7934,76 Euro zu zahlen.
Entscheidung des Bundessozialgerichts
Das Bundessozialgericht folgte der Ansicht der Klägerin teilweise und urteilte, dass die Revision der Klägerin im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet sei, da das Verfahren an einem von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel gelitten habe und tatsächliche Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) für eine abschließende Entscheidung nicht ausreichend seien.
Wegen eines Verfahrensmangels verwies das BSG an die Vorinstanz zurück
Der von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmangel bestünde vorliegend darin, dass es im Hinblick auf § 14 SGB IX an einer Beiladung der Stadt Hü (bzw. der Krankenkasse) mangele.
Nach § 75 Abs 2 Satz 1 1. Alt SGG seien nämlich Dritte beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen könne.
Dies sei vorliegend nach Aktenlage für die Stadt Hü, gegebenenfalls jedoch auch für die Krankenkasse, zu bejahen; das Landessozialgericht werde dies erneut zu prüfen haben.
Ob ein Anspruch der Klägerin nicht bereits wegen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gemäß § 28 Abs 1 Satz 1 BSHG iVm §§ 79 ff BSHG ausgeschlossen sei, könne durch das BSG anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden.
Vorinstanz habe zu prüfen, ob die Klägerin auf den PKW und dessen Umbau angewiesen sei
Nach § 28 Abs 1 Satz 1 BSHG werde die Hilfe in besonderen Lebenslagen (nur) gewährt, soweit dem Hilfesuchenden die Aufbringung der Mittel nicht aus dem Einkommen und Vermögen nach den §§ 79 bis 89 BSHG zuzumuten sei. Das LSG habe somit erneut zu prüfen, ob die Klägerin auf ein neuwertiges Kfz im Wert von etwa EUR 30.000 angewiesen gewesen sei und ob nicht ein gebrauchtes Auto ausgereicht hätte.
Auch die Frage, ob die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 39, 40 Abs 1 Satz 1 BSHG iVm § 55 Abs 2 Nr 1 SGB IX und § 9 Abs 2 Nr 11 Eingliederungshilfe-VO dem Grunde nach erfülle, könne nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ebenfalls nicht durch das BSG beurteilt und müsse daher durch das LSG neu festgestellt werden.
Dies betreffe insbesondere auch die Frage, ob die Klägerin im Sinne des § 9 Abs 2 Nr 11 Eingliederungshilfe-VO generell auf ein Kfz angewiesen sei. Dies beurteile sich in erster Linie nach dem Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (§ 39 Abs 3 BSHG).
Quelle: Bundessozialgericht
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