Verwaltungsgericht Stuttgart, 29.03.2012, Az.: 11 K 4541/11
Verfahren bei der Beantragung von Aufenthaltserlaubnissen
Während der Beantragung von Aufenthaltserlaubnissen oder ähnlichen Genehmigungen steht man in ständigem Kontakt mit der zuständigen Ausländerbehörde. An diese Behörde werden Unterlagen und Dokumente geschickt, die von ihr bearbeitet werden. Dies gilt auch für Anträge auf eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Familienzusammenführung. Wer ein minderjähriges deutsches Kind in Deutschland hat, kann eine solche Aufenthaltserlaubnis beanspruchen.
Im vorliegenden Fall strebte der Antragsteller die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an, da er nach einem bereits rechtmäßigen Aufenthalt nun ein deutsches minderjähriges Kind hatte. Da der Antragsteller jedoch nicht die zeitlichen Voraussetzungen erfüllte, nach denen er drei Jahre lang eine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug besitzen musste, wurde der Antrag abgelehnt. Daraufhin beantragte der Antragsteller die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung. Nach Erhebung einer Klage stimmte das Verwaltungsgericht Stuttgart diesem Antrag zu und verpflichtete die Ausländerbehörde zur Erteilung der Niederlassungserlaubnis, da diese die Verweigerung nicht mehr rechtfertigen konnte.
Sachverhalt des gerichtlichen Verfahrens:
Der 1971 geborene Kläger war bosnisch-herzegowinischer Staatsangehöriger. Anfang 2006 kam er zuletzt als Werkvertragsarbeitnehmer nach Deutschland. Die Beklagte erteilte ihm hierfür eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18 AufenthG, die mehrfach verlängert wurde.
Ausländischer Arbeitnehmer bekommt deutsches Kind und erhält Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG
Am 12.04.2006 heiratete er eine in Stuttgart lebende kroatische Staatsangehörige und beantragte am 15.05.2006 die Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug. Diese erhielt er auch am 21.06.2006 auf der Grundlage des § 30 AufenthG. Am 11.06.2007 wurde sie bis zum 10.06.2009 verlängert.
Am 18.09.2008 brachte die Ehefrau des Klägers in Stuttgart ein gemeinsames Kind zur Welt, das gemäß § 4 Abs. 3 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Darüber wurde die Beklagte im Rahmen eines Aufenthaltserlaubnisverlängerungsverfahrens im Mai 2009 unterrichtet. Am 19.05.2009 erhielt der Kläger eine bis zum 19.05.2011 gültige Aufenthaltserlaubnis, nunmehr nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG.
Kläger beantragt nachfolgend die Niederlassungserlaubnis
Am 12.07.2010 beantragte der Kläger die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Mit Schreiben vom 22.07.2010 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die zeitlichen Voraussetzungen seien erst ab dem 14.02.2011 erfüllt. Es wurde empfohlen, den Antrag zurückzunehmen. Am 23.09.2010 meldete sich daraufhin der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers. Dieser wies darauf hin, dass der Kläger mit seinem Kind deutscher Staatsangehörigkeit in einer familiären Lebensgemeinschaft zusammenlebte und sein Begehren daher nach § 28 Abs. 2 AufenthG gerichtet sei. Die Voraussetzungen hierfür waren erfüllt.
Mit Verfügung vom 17.03.2011 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ab. Grund dafür war, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG nicht vollständig nachgewiesen wurden. Die „erleichterte“ Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG setzte voraus, dass der betreffende Ausländer zuvor drei Jahre lang ununterbrochen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG besessen hatte. Der Kläger besaß eine solche jedoch erst seit dem 19.05.2009. Die gesetzliche Frist war daher erst am 19.05.2012 erfüllt. Auch konnte der gesicherte Lebensunterhalt des Klägers, der selbständig war und einen Gewerbebetrieb führte, nicht ausreichend belegt werden.
Gegen die Ablehnung der Niederlassungserlaubnis argumentiert der Kläger, dass die Ausländerbehörde ihn nicht ausreichend aufgeklärt habe
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und begründete diesen damit, dass seine Tochter bereits am 18.09.2008 geboren sei. Dass der Kläger seine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG erst am 19.05.2009 erhalten hatte, sei nicht seine Schuld. Der entsprechende Rechtsanspruch bestand mit der Geburt des Kindes. Auch eine ausreichende Lebensunterhaltssicherung konnte bald dargelegt werden.
Im Widerspruchsverfahren fragte das Regierungspräsidium Stuttgart beim Kläger an, ob mit dem eingelegten Widerspruch auch ein Antrag auf rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG ab dem Zeitpunkt der Geburt des deutschen Kindes gestellt wurde. Dies wäre dann durch die untere Ausländerbehörde zuständigkeitshalber zu prüfen.
Kläger beantragt die rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG
Aufgrund dieses Hinweises des Regierungspräsidiums Stuttgart beantragte der Kläger am 11.04.2011, die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Geburt des deutschen Kindes (18.09.2008) zu erteilen. Am 19.04.2011 informierte die Beklagte den Kläger, dass sie beabsichtigte, diesen Antrag abzulehnen, da er selbst nach der Geburt seiner Tochter nicht bei der Ausländerbehörde vorgesprochen und auch keine entsprechende Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG beantragt hatte. Erst später wurde die Ausländerbehörde darüber informiert, dass er in der Zwischenzeit Vater geworden war. Die rückwirkende Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels sei nicht zulässig, da es an einem schutzwürdigen Interesse fehle. Das Bundesverwaltungsgericht habe ein solches schutzwürdiges Interesse nur insoweit anerkannt, als ein Ausländer überhaupt keinen Titel besaß, der zu einer Aufenthaltsverfestigung hätte führen können. Der Kläger aber hatte im maßgeblichen Zeitpunkt einen Aufenthaltstitel gemäß § 30 AufenthG besessen. Eine rückwirkende Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels als des ursprünglichen sei daher weder notwendig noch gerechtfertigt. Um außerdem zu verhindern, dass in einem solchen Fall zwei unterschiedliche Aufenthaltstitel gleichzeitig in der Vergangenheit vorliegen, müsste der ursprünglich erteilte Titel für den entsprechenden Zeitraum aufgehoben werden. Hierfür fehle es jedoch an einer Rechtsgrundlage. Daher komme in einer solchen Situation nur ein Zweckwechsel in Betracht, welcher nur für die Zukunft (und nicht für die Vergangenheit) gelte und voraussetze, dass der ursprünglich erteilte Aufenthaltstitel ausgelaufen, auf ihn verzichtet wurde oder anderweitig erledigt war. Außerdem fehlte es weiterhin an Nachweisen für einen gesicherten Lebensunterhalt.
Daraufhin erhielt der Kläger die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG bis zum 18.05.2014 von der Beklagten verlängert.
Während des Widerspruchsverfahrens legte der Kläger keine weiteren Unterlagen zur Sicherung seines Lebensunterhalts vor. Daraufhin wies das Regierungspräsidium Stuttgart am 22.11.2011 den Widerspruch des Klägers gegen die Verfügung der Beklagten zurück, da er u.a. die Voraussetzungen eines gesicherten Lebensunterhalts nicht nachweisen konnte. Darauf, ob die Dreijahresfrist nach § 28 Abs. 2 AufenthG erfüllt war, kam es deshalb nicht weiter an.
Gegen die Ablehnung der Niederlassungserlaubnis reicht der Kläger Klage ein
Am 22.12.2011 rief der Kläger das Verwaltungsgericht an und führte aus, dass er die zeitlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AufenthG für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erfülle. Demnach werde nämlich gerade nicht verlangt, dass der Ausländer zuvor für drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sein musste. Die vorher besessene Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG stellte ebenfalls einen Aufenthaltstitel zum Familiennachzug dar und müsse insoweit genügen. Im Übrigen werde auf das anhängige Verfahren zur rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG verwiesen. Der Kläger legte im laufenden gerichtlichen Verfahren den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2009 und betriebswirtschaftliche Auswertungen des Steuerberaters für die Jahre 2010 und 2011 vor.
In Vorbereitung der mündlichen Verhandlung teilte die Beklagte mit, dass die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG noch nicht erfüllt seien und der gesicherte Lebensunterhalt weiter überprüft werden müsse.
In der mündlichen Verhandlung vom 29.03.2012 erweiterte der Kläger sein Klagebegehren um den Anspruch auf rückwirkende Erteilung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG und fixierte dieses Begehren nun auf einen Termin drei Jahre vor dem Tag der mündlichen Verhandlung.
Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart:
Kläger steht ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu
Die Klage war insgesamt zulässig. Das Begehren, das abgeschlossene Verfahren des Klägers auf erstmalige Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG wieder aufzugreifen und dem Kläger diese Aufenthaltserlaubnis rückwirkend ab dem 28.03.2009 zu erteilen, war auch begründet. Der Kläger hatte einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung seines Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde – auch wenn die in § 51 Abs. 1 bis 3 LVwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue – der gerichtlichen Überprüfung zugängliche – Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Diese Möglichkeit des Wiederaufgreifens findet ihre Rechtsgrundlage in § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG (BVerwG, Urt. v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 -, zit. n. <juris>; Urt. v. 7.09.1999 – 1 C 6.99 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 20 S. 16; Urt. v. 21.03.2000 – 9 C 41.99 -, BVerwGE 111, 77 <82>).
Eine Durchbrechung der Rechtskraft erfordert hierbei zunächst eine Positiventscheidung der Behörde zum Wiederaufgreifen (Stufe 1), etwa weil die Behörde sich im Wege ihres Wiederaufgreifensermessens nach § 51 Abs. 5 LVwVfG hierzu entscheidet. Erst wenn eine solche Positiventscheidung getroffen ist, wird der Weg für eine erneute Sachentscheidung eröffnet (Stufe 2).
Auf dieser zweiten Stufe ist die Behörde nicht auf die in § 48 Abs. 1 Satz 1 LVwVfG und § 49 Abs. 1 LVwVfG normierten Möglichkeiten der Aufhebung des Verwaltungsakts ex tunc („von damals an“) oder ex nunc („ab jetzt“) beschränkt, sondern sie hat zu entscheiden, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen, im Wege eines Zweitbescheids bestätigt oder geändert werden soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.1999 a.a.O.).
Mit der Befugnis der Behörde, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen, korrespondiert ein – gerichtlich einklagbarer (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) – Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.09.2007 – 2 BvR 1613/07 -, InfAuslR 2008, 94; BVerwG, Urt. v. 21.03.2000 a.a.O.).
Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG i.V.m. §§ 48 und 49 LVwVfG noch nicht abschließend ausgeübt. Sie hatte lediglich in einem Schreiben vom 19.04.2011 den Kläger darüber informiert, dass sie beabsichtigte, diesen Antrag abzulehnen. Jedoch hielten die Ausführungen der Beklagten, weshalb sie einem Wiederaufgreifen, d.h. einer Positiventscheidung auf der ersten Stufe der ihr obliegenden Ermessensentscheidung, gegenüberstand, einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Die Annahme, dass das im Wege des Wiederaufgreifens geltend gemachte Begehren unzulässig war, weshalb bereits auf der ersten Stufe eine ablehnende Entscheidung erfolgte, war im vorliegenden Fall kein zu berücksichtigender Gesichtspunkt. Die rückwirkende Erteilung der erstmaligen Aufenthaltserlaubnis des Klägers nach § 28 Abs. 1 AufenthG war hier ohne weiteres zulässig, insbesondere lag ein schutzwürdiges Interesse vor. Die Annahme der Beklagten, das Bundesverwaltungsgericht habe ein solches schutzwürdiges Interesse nur insoweit anerkannt, als ein Ausländer überhaupt keinen Titel besaß, der zu einer Aufenthaltsverfestigung hätte führen können, traf in keiner Weise zu. In der entsprechenden Entscheidung vom 09.06.2009 (-1 C 7/08 -, zit. n. <juris>) heißt es:
Ausländer kann rückwirkendes Erteilen eines Aufenthaltstitels nur bei schutzwürdigem Interesse verlangen
„Nach der Rechtsprechung des Senats kann ein Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach der Antragstellung nur beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. Dies gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht. In diesem Sinne hat der Senat ein schutzwürdiges Interesse angenommen, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein kann, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer den begehrten Aufenthaltstitel besitzt (Urteile vom 27. Januar 2009 – BVerwG 1 C 40.07 – DVBl 2009, 650 und vom 29. September 1998 – BVerwG 1 C 14.97 – Buchholz 402.240 § 24 AuslG 1990 Nr. 3 m.w.N.).“
Im dort zu entscheidenden Fall hatte das Bundesverwaltungsgericht die (nachträgliche) rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels nur versagt, weil sich diese dort aufenthaltsrechtlich nicht mehr auswirken konnte, da der dortige Kläger bereits ein Daueraufenthaltsrecht erworben hatte. Im vorliegenden Fall jedoch begehrte der Kläger gerade die rückwirkende erstmalige Erteilung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG, um anschließend ein Daueraufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 2 AufenthG zu erhalten. Da die Beklagte gerade den dreijährigen Besitz der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG vom Kläger verlangte, bevor ihm die Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG erteilt werden konnte, war das schutzwürdige Interesse des Klägers i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts offenkundig.
Auch der zweite angeführte Punkt der Beklagten konnte die Weigerung, das Verfahren wiederaufzugreifen, nicht rechtfertigen. In diesem Punkt hatte die Beklagte ausgeführt, dass der ursprünglich erteilte Titel – hier also der nach § 30 AufenthG – mit Wirkung für den entsprechenden Zeitraum aufgehoben werden müsse, damit in der Vergangenheit nicht zeitgleich zwei unterschiedliche Aufenthaltstitel vorliegen, wobei es jedoch an einer Rechtsgrundlage fehle. Denn die Beklagte hatte in ihrem Schreiben vom 19.04.2011 selbst ausgeführt, dass im Falle eines solchen Zweckwechsels der zunächst erteilte Aufenthaltstitel ausgelaufen oder auf ihn verzichtet werden müsse. Eine solche Erklärung ist in einem Antrag auf Zweckwechsel bzw. Titelwechsel jedoch stets konkludent enthalten. Auch beim Wechsel von einer noch gültigen Aufenthaltserlaubnis hin zu einer Niederlassungserlaubnis handhabte die Beklagte dies nicht anders.
Da für ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 LVwVfG die Antragsfrist des § 51 Abs. 3 LVwVfG nicht gilt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.10.2009, a.a.O.), stand aus Rechtsgründen einer positiven Ausübung des Wiederaufgreifensermessens nichts entgegen.
Ausländerbehörde hatte gegen ihre Beratungspflicht verstoßen
Die Beklagte entschied, das Verfahren zur erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG rechtmäßig wiederaufzugreifen, da sie selbst gegen ein Gesetz verstoßen hatte, dessen „Korrektur“ hier nun geboten war. So hatte der Kläger nach der Geburt seiner Tochter im September 2009 nicht bei der Ausländerbehörde vorgesprochen und auch keine entsprechende Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG beantragt, jedoch unterlag die Beklagte auch in ausländerrechtlichen Verfahren den Vorschriften des LVwVfG. Nach dessen § 25 Abs. 1 sollte die Behörde die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen, wenn diese offensichtlich nur versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind. Als Ausdruck der aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip folgenden Betreuungs- und Fürsorgepflicht des Staates setzt die Belehrungspflicht keine vorangehende Anfrage voraus, sie ist von der Behörde vielmehr von Amts wegen zu erfüllen (VGH Ba.-Wü., Beschl. v. 20.06.2006 – 1 S 1136/05 -, zit. n. <juris>; vgl. auch P. Stelkens/Kallerhoff in: Stelkens u.a. <Hg.>, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 25 Rn. 30, 34).
In Konsequenz der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 09.06.2009, a.a.O.) bedeutet dies, eine Ausländerbehörde muss immer dann auf die Möglichkeit einer Antragstellung auf Erteilung einer rückwirkenden Aufenthaltserlaubnis hinweisen, wenn sie erkennt, dass a) die maßgeblichen Voraussetzungen schon in der Vergangenheit vorgelegen haben und b) mit Blick auf ein künftiges Daueraufenthaltsrecht für den Betroffenen eine günstige Wirkung möglich ist. Dies ist in Fällen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG ebenso der Fall wie dann, wenn ein zuvor geduldeter Ausländer nun die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erlangt. Schließlich gilt dies in Fällen, in denen ein Ausländer mit zuvor „unsicherem“ Aufenthaltsstatus (§ 16 AufenthG; Au-pair) einen höherwertigen Status erlangt, etwa durch Eheschließung. Inwieweit eine rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis dann tatsächlich geboten ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei sind sowohl der Zeitpunkt der Antragstellung als auch etwa der Nachweis der entsprechenden Voraussetzungen wie auch verfassungsrechtliche Grundentscheidungen (Art. 6 Ans. 1 GG) zu berücksichtigen.
Kläger hatte ein schutzwürdiges Interesse an der Wiederaufgreifung
Demzufolge hatte die Beklagte nicht nur die Pflicht, das Verfahren zur erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG wiederaufzugreifen, sondern auch, wie vom Kläger beantragt, eine solche bereits ab dem 28.03.2009 auszusprechen. Denn das schutzwürdige Interesse des Klägers reichte bis zu dem Tag zurück, da ihm dies nunmehr die Erlangung der Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG ermöglichte. Die Beklagte konnte anhand der im Mai 2009 vorgelegten Unterlagen selbst erkennen, dass ein Anspruch nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG aufgrund des 2008 geborenen deutschen Kindes bestand. Dann hätte schon damals – rückwirkend – der Aufenthaltstitel des Klägers von § 30 AufenthG nach § 28 Abs. 1 AufenthG umgewandelt werden müssen. Diese Rechtsfolge konnte der Kläger nunmehr beanspruchen.
Folglich ergab sich auch ein Anspruch auf die Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG des Klägers, wodurch auch dieser Teil der Klage begründet war. Die Einsicht in die vom Kläger und seiner Ehefrau vorgelegten Unterlagen ergab zur richterlichen Überzeugung (§ 108 VwGO), dass – im Sinne der gebotenen Prognoseentscheidung – von einem gesicherten Lebensunterhalt ausgegangen werden konnte. Der Kläger war arbeitsam, fleißig, und sein Gewerbebetrieb erzielte seit der Gründung steigende Einnahmen. Zusätzlich stand der Familie das Erwerbseinkommen der Ehefrau bzw. in den entsprechenden Zeiträumen Erziehungsgeld zur Verfügung. Die Familie besaß außerdem Wohneigentum mit einer tragbaren Belastung.
Quelle: Verwaltungsgericht Stuttgart
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