Verwaltungsgericht Berlin, 20.12.2022, Az.: 39 K 62.19 A
In diesem Fall geht es um die Anwendung und Auslegung von Schutzvorschriften des deutschen Asyl- und Aufenthaltsrechts, insbesondere im Kontext von Abschiebungsverboten. Der rechtliche Rahmen wird dabei maßgeblich durch das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sowie durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bestimmt. § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK verbietet die Abschiebung von Ausländern, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass ihnen im Zielstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Hintergrund des Falls: Flucht und Asylantrag der ukrainischen Familie
Die Kläger in diesem Verfahren sind eine ukrainische Familie, bestehend aus dem Vater, einem 48-jährigen Mann (Kläger zu 1), und seinen beiden minderjährigen Kindern, die zum Zeitpunkt der Klageerhebung zehn bzw. elf Jahre alt waren (Kläger zu 2 und 3). Die Familie verließ die Ukraine und reiste am 16. Juli 2018 gemeinsam mit der Ehefrau des Klägers zu 1 und Mutter der Kläger zu 2 und 3, die in einem parallelen Verfahren (VG 39 K 64.19 A) als Klägerin auftrat, auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Motivation für die Flucht aus der Ukraine lag in den gesundheitlichen Problemen des Klägers zu 1, der 2003 mit HIV diagnostiziert wurde und seither unter mehreren Begleiterkrankungen wie Hepatitis leidet. Trotz der Schwere seiner Erkrankungen erhielt er in der Ukraine keine ausreichende medizinische Behandlung oder Medikamente, was ihn letztendlich dazu zwang, das Land zu verlassen. Am 1. August 2018 stellten die Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Asylanträge, um Schutz in Deutschland zu erhalten.
Entscheidung des BAMF: Ablehnung des Asylantrags
Nach der Einreise der Familie und der Einreichung der Asylanträge durchlief der Kläger zu 1 am 9. August 2018 eine Anhörung beim BAMF. In dieser Anhörung schilderte er die Gründe für seine Flucht aus der Ukraine, wobei er insbesondere seine gesundheitlichen Probleme hervorhob und die unzureichende medizinische Versorgung in seinem Heimatland betonte. Er äußerte die Befürchtung, dass eine Rückkehr in die Ukraine zu einer lebensbedrohlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands führen könnte, da die Diskriminierung von HIV-positiven Personen in der Ukraine weit verbreitet sei.
Trotz dieser Ausführungen entschied das BAMF am 23. August 2018, die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Asylanerkennung sowie subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Das BAMF stellte zudem fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen, und forderte die Familie unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise in die Ukraine innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides auf. Zusätzlich wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung verhängt.
Gerichtliche Auseinandersetzung: Klage und Eilantrag
Am 18. Oktober 2018 erhoben die Kläger Klage beim Verwaltungsgericht und verfolgten ihr Begehren, Schutz in Deutschland zu erhalten, zunächst in vollem Umfang weiter. Parallel dazu stellten sie einen Eilantrag, um die aufschiebende Wirkung ihrer Klage zu erreichen. Das Verwaltungsgericht, genauer gesagt die vormals zuständige 31. Kammer, entschied am 2. November 2018 teilweise zugunsten der Kläger. Das Gericht ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich des Klägers zu 1 an, da nicht hinreichend gesichert war, dass die für ihn notwendige medizinische Therapie in der Ukraine verfügbar und für ihn finanziell zugänglich sei. Dies bedeutete, dass der Kläger zu 1 vorerst nicht abgeschoben werden durfte. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes für die Kläger zu 2 und 3 wurde jedoch abgelehnt.
Prozessverlauf: Änderung der Klage und Stellungnahme der Beklagten
Im weiteren Verlauf des Verfahrens konzentrierten sich die Kläger zunehmend auf den Gesundheitszustand des Klägers zu 1 als Hauptargument für die Notwendigkeit eines Abschiebungsverbots. Sie reichten ärztliche Atteste ein, die die Schwere seiner Erkrankung und die Gefahr einer erheblichen Verschlechterung seines Zustands im Falle einer Abschiebung in die Ukraine belegten. Diese Dokumente sollten untermauern, dass eine Rückkehr in die Ukraine nicht nur für den Kläger zu 1, sondern auch für seine minderjährigen Kinder eine unzumutbare Härte darstellen würde.
Am 15. Dezember 2022 beschränkten die Kläger ihre Klage auf die Feststellung von Abschiebungsverboten und nahmen die Klage im Übrigen zurück. In der mündlichen Verhandlung erklärte die Vertreterin der Beklagten (BAMF), dass sie die Ziffern 4 bis 6 des Bescheids vom 23. August 2018 hinsichtlich des Klägers zu 1 aufhebt und feststellt, dass für diesen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegt. Hinsichtlich der Kläger zu 2 und 3 wurden die Ziffern 5 und 6 des Bescheids aufgehoben. Die Parteien erklärten den Rechtsstreit insoweit für erledigt.
Gerichtliche Entscheidung: Feststellung von Abschiebungsverboten für die Kinder
Im verbleibenden Teil des Verfahrens hatten die Kläger, vertreten durch ihren Vater, weiterhin das Ziel, die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch für die minderjährigen Kinder zu erreichen. Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Das Gericht prüfte die Sachlage unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnisse über die Sicherheits- und Menschenrechtssituation in der Ukraine, insbesondere im Kontext des anhaltenden Krieges und der daraus resultierenden humanitären Krise.
Das Gericht stellte fest, dass die Ablehnung der Abschiebungsverbote für die Kinder durch das BAMF rechtswidrig war und die Kinder in ihren Rechten verletzt wurden. Nach der geltenden Rechtslage darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn die Abschiebung gegen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstößt, insbesondere wenn eine ernsthafte Gefahr besteht, dass der Betroffene der Todesstrafe, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Das Gericht folgte der Argumentation, dass den Kindern im Falle einer Rückkehr in die Ukraine eine solche Gefahr drohe, insbesondere aufgrund der aktuellen Sicherheitslage und der schlechten humanitären Bedingungen im Land.
Beurteilung der Sicherheitslage in der Ukraine
Das Gericht führte in seiner Entscheidung detailliert die aktuelle Lage in der Ukraine aus, die seit dem 24. Februar 2022 durch den Angriff russischer Streitkräfte erheblich verschlechtert wurde. Es wies darauf hin, dass die Kampfhandlungen in weiten Teilen des Landes, einschließlich der Hauptstadt Kiew, stattfanden und die Zivilbevölkerung in großem Maße betroffen war. Die russischen Streitkräfte griffen sowohl militärische als auch zivile Ziele an, was zu einer großen Zahl ziviler Opfer führte. Berichte über gezielte Angriffe auf Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser sowie über massive Menschenrechtsverletzungen, einschließlich Hinrichtungen, Verschleppungen und Folter, untermauern das hohe Risiko, dem Zivilisten in der Ukraine ausgesetzt sind.
Das Gericht hob hervor, dass die humanitäre Lage in der Ukraine extrem kritisch ist. Millionen Menschen wurden vertrieben, viele haben ihre Wohnungen verloren, und die Versorgung mit grundlegenden Gütern wie Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und medizinischer Hilfe ist stark eingeschränkt. Diese Situation stellt eine akute Gefahr für das Leben und die Gesundheit der Zivilbevölkerung dar, insbesondere für vulnerable Gruppen wie Kinder und chronisch Kranke.
Schlussfolgerung: Rechtliche und humanitäre Erwägungen
Angesichts dieser Umstände kam das Gericht zu dem Schluss, dass den Klägern zu 2 und 3 im Falle einer Rückkehr in die Ukraine eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht. Die Kombination aus der allgemeinen Sicherheitslage, der humanitären Krise und den individuellen gesundheitlichen Umständen der Familie, insbesondere der chronischen Erkrankung des Vaters, führte das Gericht zu der Überzeugung, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind. Da das Gericht bereits ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG feststellte, war es nicht erforderlich, zusätzlich über das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu entscheiden, da beide Normen in einem einheitlichen Streitgegenstand zusammenfallen.
Das Urteil zeigt, wie Gerichte in Deutschland die menschenrechtlichen und humanitären Erwägungen in Asylverfahren berücksichtigen, insbesondere wenn es um den Schutz von Familien und vulnerablen Personen in Konfliktgebieten geht. In diesem Fall stellte das Gericht klar, dass die humanitäre Katastrophe in der Ukraine und die speziellen gesundheitlichen Bedürfnisse der Kläger eine Abschiebung unzumutbar machen. Damit wird ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Menschenrechte und zur Wahrung der Würde von Geflüchteten geleistet.
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