Europäischer Gerichtshof, 11.11.2014, Rechtssache C 333/13
Wir haben an dieser Stelle bereits mehrfach über die gesetzlichen Regelungen berichtet, welche den Sozialleistungsbezug von Ausländern zum Gegenstand haben. Damit sind solche Ausländer gemeint, welche sich mit einem deutschen Aufenthaltstitel (z. B. Visum, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis) in Deutschland befinden.
Noch kontroverser wird allerdings die Frage diskutiert, ob auch Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Recht haben, Sozialleistungen vom deutschen Staat zu beziehen.
Gerade in Bezug auf Leistungen des SGB II (Hartz 4) gibt es dafür mit § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II eigentlich eine klare Regelung.
Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind nämlich
– solche Ausländerinnen und Ausländer sowie ihre Familienangehörigen nicht leistungsberechtigt, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,
– sowie Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen nicht leistungsberechtigt, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
Ob diese Regelungen allerdings mit dem geltenden EU-Recht konform sind, war bislang noch nicht festgestellt worden. In der oben genannten Rechtssache war diese Frage daher dem Europäischen Gerichtshof in einem sogenannten Vorabentscheidungsverfahren vorgelegt worden.
Sachverhalt: Die Klägerin in diesem Rechtsstreit ist rumänische Staatsangehörige, welche seit mehreren Jahren mit ihrem in Deutschland geborenen minderjährigen Sohn bei ihrer Schwester in Leipzig leben.
Sie und ihr Sohn beziehen bereits Kindergeld i. H. v. EUR 184 und Unterhaltsvorschuss i. H. v. EUR 133. Während ihrer Zeit in Deutschland arbeitete die Klägerin nicht und zeigte auch keine Bemühungen, eine Arbeit zu finden. Auch in Rumänien war die Klägerin nicht erwerbstätig gewesen.
Um weitere Leistungen zu erhalten, stellte die Klägerin beim zuständigen Jobcenter in Leipzig Antrag auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz 4). Das Jobcenter verweigerte die Leistungen allerdings unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II.
Da sich die Klägerin mit dieser Entscheidung nicht zufrieden geben wollte, klagte sie vor dem Sozialgericht Leipzig. Das Sozialgericht Leipzig folgte zwar der Ansicht des Jobcenters, gab aber zu Bedenken, dass eventuell EU-rechtliche Bestimmungen der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II entgegen stehen könnten und legte diese Frage Art. 234 EGV dem Europäischen Gerichtshof daher zur Vorabentscheidung vor.
Vor der endgültigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes befasste sich der Generalanwalt Melchior Wathelet mit der Fragestellung. In seinen Schlussanträgen vom 20.05.2014 kam der Generalanwalt zu der Ansicht, dass Rechtsvorschriften, die Leistungen der Grundsicherung solchen Personen verweigern, die weit davon entfernt sind, sich in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, und einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland kommen, Nutzen aus dem deutschen Sozialhilfesystem zu ziehen, im Einklang mit dem Willen des Unionsgesetzgebers stünden.
Denn mit derartigen Rechtsvorschriften könne verhindert werden, dass Personen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen würden, ohne sich integrieren zu wollen, zu eine Belastung für das Sozialhilfesystem werden.
Da die Schlussanträge des Generalanwalts für den Europäischen Gerichtshof allerdings nicht bindend sind, sondern nur einen Entscheidungsvorschlag darstellen, bildet die heutige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes die endgültige Vorabentscheidung.
Europäischer Gerichtshof: Der Europäische Gerichtshof hat nun entschieden, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu bestimmten Sozialleistungen (wie den deutschen Leistungen der Grundsicherung) nur verlangen könnten, wenn ihr Aufenthalt die Voraussetzungen der „Unionsbürgerrichtlinie“ erfülle.
Insofern sei der Aufnahmemitgliedstaat nach der Richtlinie nicht verpflichtet, während der ersten drei Monate des Aufenthalts Sozialhilfe zu gewähren.
Bei einer Aufenthaltsdauer von mehr als drei Monaten, aber weniger als fünf Jahren (wie im vorliegenden Fall), mache die Richtlinie das Aufenthaltsrecht u. a. davon abhängig, dass nicht erwerbstätige Personen über ausreichende eigene Existenzmittel verfügen.
Damit solle verhindert werden, dass nicht erwerbstätige Unionsbürger das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch nehmen würden.
Somit müsse ein Mitgliedstaat die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen würden, in den Genuss der Sozialhilfe eines Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen würden, Sozialleistungen versagen zu können; insoweit sei jeder Einzelfall zu prüfen, ohne die beantragten Sozialleistungen zu berücksichtigen.
Die Unionsbürgerrichtlinie und die Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit stünden somit einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ ausschließe, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie zustünde.
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