1. Einleitung: Die Bedeutung der Identitätsklärung
Die Identitätsklärung ist ein fundamentaler Bestandteil des Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrechts und stellt die Voraussetzung für die Integration und Rechtsstellung von Migrantinnen dar. Sie ist unerlässlich für Einbürgerungsverfahren (§ 8 und § 10 Staatsangehörigkeitsgesetz – StAG) sowie die Erteilung von Aufenthaltstiteln (§ 5 Aufenthaltsgesetz – AufenthG).
Jedoch stehen betroffene Personen, insbesondere anerkannte Flüchtlinge und Staatenlose, häufig vor erheblichen Hürden, da Nachweise über ihre Identität entweder fehlen oder von deutschen Behörden nicht anerkannt werden. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in mehreren Entscheidungen ein gestuftes Prüfmodell entwickelt, das auf verschiedenen gesetzlichen Grundlagen beruht und eine differenzierte Herangehensweise ermöglicht.
2. Das Stufenmodell des Bundesverwaltungsgerichts
Das vom BVerwG in seinem Urteil vom 23. September 2020 (Az.: 1 C 36/19) formulierte Stufenmodell zur Identitätsklärung im Staatsangehörigkeitsrecht gliedert sich in vier Ebenen:
- Primäre Nachweise: Diese umfassen amtliche Dokumente wie Pässe, Führerscheine oder Geburtsurkunden. Sie gelten gemäß § 8 Abs. 1 StAG und § 10 Abs. 1 StAG als der verlässlichste Nachweis der Identität.
- Sekundäre Nachweise: Darunter fallen andere amtliche Dokumente wie Schul- oder Taufbescheinigungen, sofern bei ihrer Ausstellung die Verbindung von Person und Name geprüft wurde.
- Nichtamtliche Nachweise: Zeugenaussagen und private Dokumente können gemäß § 26 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) herangezogen werden.
- Individuelle Angaben: Abschließend können persönliche Angaben des Antragstellers berücksichtigt werden, wenn diese durch eine umfassende Würdigung des Vorbringens und der Umstände des Einzelfalls plausibel erscheinen.
Dieses Modell wurde erstmals in der Entscheidung BVerwG 1 C 36/19 detailliert beschrieben und basiert auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 11. Oktober 2011, Nr. 53124/09, Genovese vs. Malta), die eine differenzierte Prüfung von Identitätsnachweisen fordert.
3. Gesetzliche Grundlage der Identitätsprüfung
Die gesetzliche Grundlage für die Identitätsprüfung im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht findet sich in verschiedenen Normen. Im Staatsangehörigkeitsrecht regeln §§ 8 Abs. 1 und 10 Abs. 1 StAG, dass die Identität des Antragstellers zwingend nachgewiesen werden muss.
Im Aufenthaltsrecht stellt § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG klar, dass Identitätsnachweise eine allgemeine Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels sind. Hier gibt es jedoch Ausnahmen (§ 5 Abs. 3 AufenthG), die insbesondere bei anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten greifen, wenn die Beschaffung von Nachweisen unzumutbar ist. Für spezifische Aufenthaltstitel wie Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldungen (§§ 60c und 60d AufenthG) gelten zusätzliche Regelungen.
Diese gesetzlichen Bestimmungen werden durch verwaltungsinterne Vorgaben ergänzt, wie die Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (Rundschreiben vom 12. August 2021, Az.: M3-21002/31#8), die eine praxisorientierte Anleitung für die Bewertung von Nachweisen bieten.
4. Die Praxis: Herausforderungen bei der Umsetzung
In der Praxis stößt die Anwendung des Stufenmodells auf erhebliche Probleme. Das sukzessive Prüfverfahren führt oft zu langwierigen Verfahren, da jede Stufe einzeln geprüft werden muss. Dies widerspricht dem Grundsatz der Effizienz im Verwaltungshandeln (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 VwVfG). Betroffene Personen geraten dadurch in rechtliche Unsicherheiten, die ihre soziale und wirtschaftliche Integration behindern.
Besonders kritisch ist dies bei anerkannten Flüchtlingen, die gemäß § 3 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht verpflichtet werden können, mit Behörden ihres Herkunftsstaates Kontakt aufzunehmen. Dennoch verlangen deutsche Behörden häufig zusätzliche Nachweise, die für diese Personengruppe schwer oder gar nicht beschaffbar sind.
5. Spezialfall Somalia: Besondere Problematik somalischer Staatsangehöriger
Die Situation somalischer Geflüchteter ist ein Beispiel für die Herausforderungen der Identitätsprüfung. Aufgrund des Zusammenbruchs des somalischen Staates 1991 werden alle nach diesem Datum ausgestellten Dokumente von deutschen Behörden nicht anerkannt (vgl. BMI-Allgemeinverfügung vom 13. Oktober 2022, BAnz AT 25.10.2022 B4).
Die Ausstellung von Identitätsnachweisen durch die somalische Botschaft basiert häufig auf den Angaben der Antragsteller, ohne Rückgriff auf Register. Dies führt dazu, dass diese Nachweise von deutschen Behörden als unzureichend angesehen werden.
Die Folge sind weitreichende Einschränkungen: Menschen somalischer Herkunft können häufig keine Geburtsurkunden für ihre Kinder ausstellen, keine sicherheitsrelevanten Berufe ausüben oder eine Niederlassungserlaubnis erlangen. Auch die Einbürgerung wird durch die fehlende Anerkennung der Dokumente massiv erschwert.
Gerichtsurteile wie VG Mainz, Urteil vom 25. März 2022 (Az.: 4 K 476/21), haben darauf hingewiesen, dass die humanitäre Lage in Somalia und die Beweisnot der Betroffenen bei der Anwendung des Stufenmodells stärker berücksichtigt werden müssen.
6. Menschenrechtliche und völkerrechtliche Perspektiven
Die Anforderungen an die Identitätsklärung müssen auch im Lichte menschenrechtlicher Verpflichtungen betrachtet werden. Artikel 8 und 14 EMRK verpflichten Staaten, diskriminierende und unverhältnismäßige Hürden zu vermeiden.
Für Flüchtlinge ergibt sich aus Artikel 34 GFK die Verpflichtung, die Einbürgerung zu erleichtern und Verfahren zu beschleunigen. Die Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 11. Oktober 2011, Genovese vs. Malta) unterstreicht, dass Staaten menschenrechtliche Standards bei der Identitätsprüfung wahren müssen, um Diskriminierungen und willkürliche Verzögerungen zu vermeiden.
Die nationale Praxis steht jedoch häufig im Widerspruch zu diesen Standards. Besonders restriktive Anforderungen an den Identitätsnachweis können Betroffene in eine dauerhafte rechtliche Unsicherheit drängen.
7. Eidesstattliche Versicherung als Alternative
Eine mögliche Lösung zur Vereinfachung der Identitätsprüfung ist die Einführung einer eidesstattlichen Versicherung. Das BVerwG hat in mehreren Entscheidungen (u.a. Urteil vom 1. September 2011, Az.: 5 C 27.10) auf die Möglichkeit hingewiesen, individuelle Angaben durch eine Versicherung an Eides statt zu ergänzen.
Allerdings fehlt bislang eine gesetzliche Grundlage für diese Praxis im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht. Eine gesetzliche Regelung gemäß § 27 Abs. 1 VwVfG könnte dieses Instrument etablieren und die Verfahren erheblich erleichtern.
8. Reformbedarf und Handlungsempfehlungen
Die Identitätsklärung im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht erfordert dringend Reformen, um menschenrechtliche Standards einzuhalten und Verfahren zu beschleunigen. Zu den wesentlichen Empfehlungen gehören:
- Kodifizierung des Stufenmodells: Eine gesetzliche Verankerung des Modells im Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) und Aufenthaltsgesetz (AufenthG) könnte für Einheitlichkeit sorgen.
- Einführung der eidesstattlichen Versicherung: Dieses Instrument sollte gesetzlich geregelt und als gleichwertige Alternative zu anderen Nachweisen anerkannt werden.
- Stärkere Berücksichtigung humanitärer Belange: Besonders bei anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten sollten menschenrechtliche und völkerrechtliche Verpflichtungen stärker berücksichtigt werden.
- Effizienzsteigerung: Die Bündelung aller Prüfungen in einem Verwaltungsverfahren könnte die Verfahrensdauer erheblich reduzieren.
9. Fazit
Die Identitätsklärung ist ein zentraler Bestandteil des Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrechts, steht jedoch vor erheblichen Herausforderungen. Das Stufenmodell des BVerwG bietet eine sinnvolle Struktur, wird jedoch durch die praktische Umsetzung erschwert. Eine gesetzliche Kodifizierung und die Einführung alternativer Nachweismittel wie der eidesstattlichen Versicherung könnten Verfahren vereinfachen und humanitäre Standards wahren.
Um die Integration von Migrantinnen zu fördern und rechtliche Unsicherheiten zu vermeiden, ist eine Reform der bestehenden Praxis unerlässlich.
10. Interessante Urteile
Die nachfolgenden Entscheidungen beschäftigen sich mit zentralen Fragen der Identitätsklärung im Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrecht. Sie verdeutlichen die juristischen und praktischen Herausforderungen, insbesondere bei unvollständigen oder nicht anerkannten Nachweisdokumenten. Diese Urteile zeigen unterschiedliche Ansätze der Gerichte, die gesetzlichen Anforderungen an die Identitätsklärung zu interpretieren und mit den praktischen Gegebenheiten der Betroffenen in Einklang zu bringen. Die Sammlung dieser Entscheidungen bietet wertvolle Einblicke in die aktuelle Rechtsprechung und deren Bedeutung für Verfahren der Identitätsfeststellung.
- Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 24.01.2022, Az.: 4 K 461/20
- Verwaltungsgericht Mainz, Urteil vom 25.03.2022, Az.: 4 K 476/21
- Verwaltungsgerichtshof München, Beschluss vom 22.01.2024, Az.: 5 ZB 23.2184
- Oberverwaltungsgericht Niedersachsen, Urteil vom 11.04.2024, Az.: 13 LA 61/23
- Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil vom 17.01.2024, Az.: 19 K 1924/23
- Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 15.05.2017, Az.: 11 K 5863/16
- Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.03.2012, Az.: OVG 3 B 15.11
- Verwaltungsgericht Stuttgart, Urteil vom 14.02.2017, Az.: 11 K 5514/16
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