Ausländerrecht: Kinder waren ohne Visum nach Deutschland zu ihrem Vater eingereist und wollten hier bleiben

VGH München, Beschluss v. 13.06.2023 – 19 ZB 23.455

Sachverhalt des Falles

Nach Ablehnung von Einreisevisa reisten die Kläger ohne Erlaubnis in die BRD ein

In dem hier vorgestellten Fall des VGH München waren zwei Kinder (Kläger) zu ihrem sich im Bundesgebiet aufhaltenden Vater eingereist. Dieser hatte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19c AufenthG. Im Bundesgebiet beantragten die Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (Kindernachzug gemäß § 32 AufenthG) bei der Beklagten. Zuvor hatten die Kläger bei der Deutschen Botschaft in Nordmazedonien Einreisevisa beantragt, die allerdings abgelehnt worden waren.

Ausländerbehörde lehnte die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen ab

Die Beklagte hatte die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen sowie den Antrag auf Duldungserteilung abgelehnt, die Kläger zur Ausreise bis zum 2. Oktober 2021 aufgefordert, für den Fall der nicht bzw. nicht fristgerecht erfolgenden Ausreise die Abschiebung der Kläger insbesondere nach Nordmazedonien angedroht sowie für den Fall der Abschiebung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, welches auf die Dauer von einem Jahr ab der Abschiebung befristet wurde.

Das erstinstanzliche Verwaltungsgericht bestätigte die Ablehnung durch die Ausländerbehörde

Das zunächst angerufene Verwaltungsgericht hatte die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom 10. Januar 2023 mit der Begründung abgewiesen, es lägen bereits die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vor, da die Kläger entgegen § 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht im Besitz gültiger Pässe seien (die vorgelegten Reisepässe seien nur bis 6.3.2022 gültig gewesen) und solche auch nach mehrfachen gerichtlichen Aufforderungen nicht vorgelegt hätten. Des Weiteren stehe die für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 32 AufenthG erforderliche Durchführung des Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 AufenthG entgegen. Eine Ausnahme nach § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV bestehe nicht, da die Voraussetzungen eines Anspruchs der Kläger auf Aufenthaltserlaubniserteilung nicht nach der Einreise entstanden seien.

Das Verwaltungsgericht sah insbesondere das fehlende Visumverfahren als Ablehnungsgrund an

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts fehle es an dem geforderten strikten Rechtsanspruch, bei dem insbesondere die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben habe. Der Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG sei zwar ein gebundener Anspruch. Da sich aber nicht beide personensorgeberechtigten Elternteile der Kläger im Bundesgebiet aufhielten, solle die Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG nur unter den dort genannten Voraussetzungen erteilt werden. Das (intendierte) Ermessen des § 32 Abs. 3 AufenthG stehe dem Vorliegen eines strikten Rechtsanspruches entgegen. Schließlich lägen auch die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein behördliches Absehen vom Visumverfahren im Ermessenswege nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht vor, insbesondere seien zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt keine besonderen Umstände des Einzelfalls gegeben, aufgrund derer es nicht zumutbar sei, das Visumverfahren nachzuholen. Der insoweit von den Klägern vorgetragene Umstand des Schulbesuchs sei bereits kein besonderer Umstand des Einzelfalls, sondern betreffe grundsätzlich alle schulpflichtigen Ausländer, die das Visumsverfahren nachzuholen hätten. Auch die Klage auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids, in welcher der Antrag auf Erteilung einer Duldung abgelehnt wurde, sei jedenfalls unbegründet. Es könne offenbleiben, ob aufgrund der isolierten Anfechtung der Bescheidsziffer ohne ausdrücklichen Verpflichtungsantrag auf Duldungserteilung die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei. Die Kläger hätten jedenfalls im Rahmen der Begründetheit keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Die Abschiebung sei weder aus tatsächlichen noch aus rechtlichen Gründen unmöglich im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG noch folge aus dem bloßen Schulbesuch der Kläger ohne unmittelbar bevorstehenden Abschluss ein Anspruch auf Erteilung einer Ermessensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG.

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beantragten die Kläger die Zulassung der Berufung

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beantragten die Kläger die Zulassung der Berufung beim VGH München.

Entscheidung des VGH München:

Das VGH München hat die Berufung gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zugelassen

Im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens haben die Kläger gültige Pässe vorgelegt. Nach Ansicht der Kläger erfüllten diese somit nun ihre Passpflicht nach § 3 AufenthG. So hätten die Kläger auch einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 32 Abs. 1, Abs. 3 AufenthG (Kindernachzug) und auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen würden vorliegen (Visumspflicht und Passpflicht).

Dieser Ansicht folgte der VGH München nicht. Das Verwaltungsgericht habe (jedenfalls im Ergebnis) zu Recht ausgeführt, dass der Aufenthaltserlaubniserteilung bereits das Fehlen allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen entgegenstünde. Das gelte insbesondere für die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Beantragung des für den konkreten Aufenthaltszweck erforderlichen Visums vor der Einreise gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

Der VGH München sah keine Ausnahme von der Erteilung eines Visums als gegeben an

Die Kläger können eine Ausnahme von der Verpflichtung, einen Aufenthaltstitel vom Ausland aus im Wege des Visumverfahrens zu beantragen, nach § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV nicht für sich in Anspruch nehmen. Dies gelte vorliegend hinsichtlich des geltend gemachten § 32 Abs. 1 AufenthG schon deshalb, weil die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Titelerteilung nicht nach der Einreise der Kläger entstanden seien. Zwar sei die nach § 32 Abs. 3 AufenthG für einen Familiennachzug zu einem von beiden sorgeberechtigten Elternteilen erforderliche Zustimmungserklärung erst am 16. Februar 2020 und damit nach der Einreise der Kläger abgegeben worden. Die Voraussetzungen des § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV könnten jedoch nur durch einen strikten Rechtsanspruch erfüllt werden, d.h. wenn alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt seien und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben habe. Dagegen genüge eine Anspruchsnorm, welche der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite ein (ggf. intendiertes) Ermessen einräume, auch im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null grundsätzlich nicht. Diese Voraussetzungen seien vorliegend jedoch nicht erfüllt:

Ein Anspruch der Kläger auf Kindernachzug besteht nicht

Ein Anspruch der Kläger auf Gestattung des Kindernachzugs gemäß § 32 AufenthG bestünde nicht. Denn dafür müssten entweder beide Elternteile oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen. Letztere Voraussetzung lag jedoch hinsichtlich beider Kläger weder im Zeitpunkt der Antragstellung auf Aufenthaltserlaubnis vor, noch ist diese im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats gegeben. Denn es ist nicht von einer alleinigen Berechtigung des im Bundesgebiet mit einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 19c AufenthG lebenden Vaters der Kläger zur Personensorge auszugehen.

Des Weiteren könnten die Kläger auch aus § 16f Abs. 2 AufenthG keinen Rechtsanspruch auf Aufenthaltserlaubniserteilung ableiten. Dem stünde schon entgegen, dass es sich bei § 16f Abs. 2 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite um eine Ermessensvorschrift handele, welche schon im Ansatz keinen strikten Rechtsanspruch im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG vermitteln könne. Ob die Kläger das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 16f Abs. 2 AufenthG ausreichend dargelegt haben (vgl. § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO), was das Verwaltungsgericht gegebenenfalls zu weiteren Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO hätte veranlassen können, könne deshalb offenbleiben. Anzumerken bliebe aber, dass aus den vorgelegten Schreiben bzw. Bescheinigungen der Schulen nicht zweifelsfrei hervorgehe, dass diese die Voraussetzungen des § 16f Abs. 2 Nr. 1 (insb. Schule mit internationaler Ausrichtung) bzw. Nr. 2 AufenthG (insb. Schule, die nicht oder nicht überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert werde sowie Vorbereitung der Schüler auf internationale Abschlüsse, Abschlüsse anderer Staaten oder staatlich anerkannte Abschlüsse) erfüllen.

Die in § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG geregelte Möglichkeit des Absehens nach Ermessen im Falle eines Anspruchs auf Aufenthaltserlaubniserteilung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG setze ebenfalls einen strikten Rechtsanspruch voraus. Diese Voraussetzung sei vorliegend, wie ausgeführt, nicht erfüllt. Nicht ersichtlich sei ferner, dass hinsichtlich des im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats volljährigen (am … 2004 geborenen) Klägers zu 1) die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG vorlägen – wozu es einer außergewöhnlichen Härte bedürfte –, abgesehen davon, dass auch diese Norm ein Ermessen eröffne.

Des Weiteren führte das Verwaltungsgericht zu Recht aus, dass die Nachholung des Visumverfahrens im Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG nicht unzumutbar sei. Hierzu könne zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die einschlägigen Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil verwiesen werden, denen der Senat folgt (§ 130b Satz 2 VwGO analog). Ergänzend sei zum Vortrag der Kläger im Zulassungsverfahren Folgendes auszuführen:

Es sei mit dem grundrechtlichen Schutz von Ehe und Familie zu vereinbaren, auf eine Entscheidung der Botschaft zu warten

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG sei es grundsätzlich vereinbar, einen Ausländer zur Erlangung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug zu sich berechtigt im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen auf die Einholung des erforderlichen Visums im Herkunftsland zu verweisen.

Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Allein das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft führe ebenso wenig dazu, regelmäßig von der Unzumutbarkeit der Einhaltung des Visumverfahrens auszugehen, wie der Umstand, dass gegebenenfalls ein kleines Kind betroffen sei, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten.

Hierzu sei eine Prognose anzustellen, mit welcher Trennungszeit bei Nachholung eines Visumverfahrens voraussichtlich tatsächlich zu rechnen wäre. Von einer Prognose der Trennungszeit könne abgesehen werden, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und dem Familienangehörigen die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden könne.

Das Visumsverfahren dient der Steuerung der Einwanderung

Im Rahmen der Abwägungsentscheidung (ob eine vorübergehende Trennung in Anbetracht der prognostischen Trennungszeit zumutbar ist) sei zu berücksichtigen, dass die Regelungen in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG dem Schutz wichtiger öffentlicher Interessen dienen. Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum solle gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Die (nachträgliche) Einholung des erforderlichen Visums zum Familiennachzug sei auch nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen. Dabei dürften auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wirke dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des Visumverfahrens dürfe nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG seien daher prinzipiell eng auszulegen.

Nach diesen Maßgaben sei es im vorliegenden Fall mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG (bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) vereinbar, die Kläger auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen.

Die Kläger hätten auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung

Schließlich habe das Verwaltungsgericht auch zu Recht einen Anspruch der Kläger auf Duldungserteilung verneint. Eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sei nicht ersichtlich. Insbesondere stünden weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK, wie ausgeführt, der Aufenthaltsbeendigung der Kläger entgegen. Dringende humanitäre oder persönliche Gründe für eine Duldungserteilung im Ermessenswege nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG seien ebenfalls weder dargelegt noch ersichtlich, insbesondere hätten die Kläger die im Schuljahr 2021/22 bereits unmittelbar vor dem Abschluss stehende schulische Ausbildung nach dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 10.1.2023) inzwischen erfolgreich abgeschlossen.

Quelle VGH München

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